Publikationen

Katalog „Thomas Wöhrmann“
Autor*in
Tabea Mertz & Michael Mayer, Berlin
Herausgeber
Galerie Grashey, Konstanz
Satz & Druck
Vetter Druck, Murg
Herausgabe
2000

Wie ein Hund, toucher

Wie ein Hund, soll Cézanne gesagt haben: wie ein Hund sehen. An einem Nachmittag beispielsweise, brennendheiß, es ist zwei Uhr nachmittags. Wie ein Hund in der Ecke kauern, träge, faul, satt, sonnensatt. Sonne und Licht und Farben und Schatten und Schatten und Wind. Und Rauschen Blätter im Wind. Und Riechen Holz Steinmoder und Pisse und Schweiß. Wie ein Hund wie es ist. Einfach so. Einfach – so. Stumm. Stummes Licht Hundegebell, mattes Hundegebell von weithin so weit. Das man manchmal zu sehen glaubt. Hörensehen Riechensehen. Ohne Attribut noch Beiwerk. Schmerzlos fast deutungslos. Fast. Fast wie ein Hund Hundmensch mit nassen Augen. Blinzeln. ein wenig blinzeln schon das Licht, Du weißt, blendet. Heißsehen. „Dies“. schreibt Artaud. „Dies ist die brennendheiße Wahrheit der Sonne um zwei Uhr nachmittags.“
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Man sagt, man könne seine Bilder sehen. Man könne sie sich ansehen. Man sagt, sie haben ein Maß, Maße. Man sagt, die Bilder Thomas Wöhrmanns lüden zu mehr als nur einer Hinsicht ein. Genau so ist es. Niemand widerspricht. „Und doch“. Und doch darf ich es wagen zu sagen, daß ich in mehr als nur einer Hinsicht der Sensation inne war, daß nicht ich sie sah. Daß nicht immer ich es war, der sah. Daß, genauer, während immer ich es war, der sie sah, nicht immer ich es war, der sah und der sie sah. Daß genauer, während ich sie sah, ansah, betrachtete, sie mich in Augenschein nahmen. Als musterten sie mich. Gesehenwerden oder Berührtwerden oder beides während man sieht: toucher. Immer wieder taucht sie auf, kommt sie mir in die Quere, diese subalterne Referenz auf mich in mir, wenn ich sie mir ansehe. Wenn ich die Bilder sehe, seine Bilder. Thomas Wöhrmann, Deine Bilder katapultieren. Deshalb kommt man ihnen nie nahe genug. Als hauste in ihnen die trostkarge Tiefe Yves Kleins wie kauernd, eifersüchtig. Darf ich es so sagen in Worten, in nackten Worten augenbetäubender Schlichtheit: während ich sie sehe-sehen-sie-mich. Berühren- sie-mich. Ich kann gar nicht sagen
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Was an seinen Bilder immer wieder verblüfft, irritiert, erstaunt, das ist dieses schwer zu benennende Zugleich von Freistellung und gleichsam ritualhafter Strenge. Der unbedingte Wille zur Formgebung und Deformalisierung. Eine geradezu akribische Pedanterie im Detail wie im Ganzen und das Abweichlerische, Ungenaue, das Unverhältnismäßige der Flächen- und Raumordnungen, der Farbkonstellationen und -kontraste, der Ubermalungen und lneinandermalungen. Schachbrettartige Muster, Vergitterungen, Verstrebungen, Grenzziehungen, farbtragende Architekturen und fein ausbalancierte Geometrien, regelrechte Proportionierungen, Aufgliederungen, Ein- und Zuteilungen und darin, darauf, eingeschrieben oder eingraviert an den Rand oder, penetrant fast mittendrin, Figuren, Schattenrisse, Formföten. Figuren also, die keine Figuren mehr sind. Kippfiguren. Nicht mehr oder noch nicht, umrissige Gestaltungen oder Figurationen, die gerade auftauchen und gerade vergehen wie Nachbilder auf der übrigens von seinen Bildern gelbgegerbten Netzhaut. Was an seinen Bildern immer wieder gefangennimmt, ist die Genauigkeit und Sorgfalt der Vorbereitung, der Aus- und Durchführung und das Überhandnehmen, Übergreifen und Ausgreifen, die Dissidenz der künstlerischen Geste. Die Flüchtigkeit der künstlerischen Geste: die hier einmal und immer wieder sorgsam, behutsam, achtsam festgehaltene Flüchtigkeit der künstlerischen Geste.
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Das Vibrieren der Farbe in Serien exakter Justierung. Alles in seinen Bildern ist Berechnung, Kalkulation, Maß- und Formgabe, um nichts anderes als sein und sehen zu lassen, was es jenseits des Kalküls, der Strategie, des Handels gibt und zu sehen gibt. Man könnte auch so und mit Worten einer eher traditionellen Rhetorik (und eine andere steht, gottlob, nicht zur Verfügung) sagen: die Formgabe hat hier nicht den Zweck, Materie einzubinden umwillen einer Funktion, eines Sinns und Zwecks selbst. Die Formgabe dient der Materie, hütet sie, wahrt und bewahrt sie, die Materie, Natur, Erde und Asche und Staub. Die Forngabe als Gabe der Materie selbst, der Materialität und Mütterlichkeit eines Empfangs ohne Bringschuld und erpreßten Dank. Die Formgabe als Akt und Potenz dessen vielleicht, was ich „Passibilität“ zu nennen versucht habe. Eine uralte und erregend neue Modalität des Schönen vielleicht. Wir werden sehen. „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ jedenfalls taufte das Kant.
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Wie ein Hund in der Sonne. Ein Vogel am Himmel himmelhoch. Wie ein Gorilla niemandes Feind. Wie ein Walroß mit purpurnem Schal. Wie ein Mensch. Menschwerden im finalen Traum von Achternbuschs Indianer. Menschwerden, die ganze geheime Atopie seiner Kunst, das unstillbare Urbild all seiner Bilder. Denn Thomas Wöhrmann ist, er hat es mir gesagt ganz und gar nach der zweiten oder dritten oder was weiß ich wievielten Flasche Wein, Thomas Wöhrmann ist ein Indianer.

MICHAEL MAYER